/// Das lange brennende Mikro – Die Nominierten

Hörstücke bis 60 Minuten (#LBM) in alphabetischer Reihenfolge Texte der Autor:innen. Alle Visuals von Josef Maria Schäfers.

Das 12. lange brennende Mikro des Berliner Hörspielfestivals geht an eine Autorin, deren hörspielästhetische Entwicklung wir in den letzten Jahren immer wieder auf unserem Festival verfolgen konnten. 2017 hat sie den Publikumspreis für das kurze brennende Mikro gewonnen, aber noch nie den Jurypreis. Die Autorin, die mit dem Jurypreis des 12. Berliner Hörspielfestivals auszuzeichnen ist, hat die Prinzess-Margarete-Schule für Wal-, Wahl- und Wähltöne besucht, heißt bürgerlich Pola Bipolar und nennt sich für ihren Contemporary-Art-Podcast Snørre Snørrensønsøn und in verschiedenen anderen Kontexten Mariola Brillowska.

Was braucht es, um eine gute Parodie zu erschaffen? Als erstes Liebe zu seinem Gegenstand, als zweites die analytischen Fähigkeiten das Wesen dieses Gegenstandes zu erfassen, als drittes die Fertigkeit, diese Analyse in ein Werk umzusetzen und als viertes die Präzision, mit der ein Pathologe eine Autopsie vornimmt und als fünftes – und sicher nicht Unwichtigtes – muss man verstehen, das sezierende Mittel der Ironie behutsam einzusetzen.

Das feine Besteck, das nötig ist, um die Präzisionsarbeit der Parodie zu betreiben, hört man in Felix Kubins Klangmontagen seiner Figur Snørre Snørrensønsøn, der „schmerzhaft schmelzende Schneeflocken“ in Szene setzt und damit der Klangesoterik des Fieldrecordings ein feines Denkmal setzt und es zugleich schleift.

Beats und Loops für Tricky oder Björk kommen so hinreißend unrhythmisch daher wie die schweren Schritte in hartem Schnee, die über die längst verflossene „Neue Grönländische Welle“ hinwegtrampeln.

1969 forderte der Fluxuskünstler Wolf Vostell in seinem – heute würde man sagen ‚interaktivem Livehörspiel‘ 100 Mal Hören und Spielen – die Hörer auf, die Knöpfe ihrer Radios zu lecken. Bei Mariola Brillowska und Felix Kubin, beziehungsweise bei Pola Bipolar und Snørre Snørrensønsøn ist es gammeliger Fisch, der die synästhetische Klangwahrnehmung von Gerüchen/Geräuschen triggert. Dazwischen liegt nur eine Hesitationsvokalisation – das „ä“ – (und ein Umlaut).

Doch das alles spielt nicht im Kosmos einer feinziselierten Fake-Doku, sondern, so könnte man meinen, am Küchentisch von Mariola und Felix – „unter realen Entgleisungen aus verlängerten Dialogen“, wie sie es gestern hier genannt haben. Und so funktioniert es halt – das freie Hörspiel.

Der zweite Platz geht an das Stück Pangäa Ultima von Clemens Hoffmann. Zusammen mit seinem musikalischen Alter Ego Anatol Atonal setzt er erdgeschichtliche Transformationen in Beziehung zu zeithistorischen Phänomen und reichert diesen Diskursmix diskret mit reichhaltigen literarischen Anspielungen an.

Eine lobende Erwähnung geht an das Stück Die Unantastbaren von Annedore Bauer für ein Manuskript, das der Hörerschaft einen enormen Freiraum in der Rezeption gibt, das mit wenigen Worten Szenerien andeutet und dabei wie beiläufig weite diskursive Assoziationshorizonte aufreißt. In diesem Text zeigt sich die literarische Begabung einer Autorin, die weiß, wie man für das Ohr schreibt.

Eine lobende Erwähnung geht an das Stück Tollhaus des Autors und Regisseurs Mark Kanak und des Komponisten Jukka-Pekka Kervinnen, das in einer beeindruckenden Musikalisierung unterschiedlichste Textsorten hörbar macht und die Stimme von Blixa Bargeld facettenreich in Szene setzt.

Bettie I. Alfred: Scheinwut / 54:04

„Scheinwut“ ist der dritte Teil der Wut-Trilogie von Bettie I. Alfred. Hauptfigur ist wieder Lissy Heiliger, die auch als Erwachsene sehr klein geblieben ist. Sie scheitert immerzu an sich und der Welt. Im dritten Teil nun, der Scheinwut, wird ihre Wut zwar weniger, jedoch ist am Ende dann trotzdem nichts mehr zu retten. Der Anfang ist jedoch zum Glück entscheidend, nicht das Ende, so Lissy.

Annedore Bauer: Die Unantastbaren / 58:27 *

Eine Kleinstadt in der BRD der 70-er und 80er Jahre. Dort erlebt sie ihre Kindheit in einer Einrichtung für geistig und körperlich behinderte Menschen. Draußen: Esspapier, amerikanische Soldaten und die Fahndungsplakate der RAF. Drinnen: eine protestantisch geprägte Welt inmitten nicht perfekter Körper. Ein Hörspiel voller Widersprüche. Über das Erinnern, die Sehnsucht nach heiler Kindheit und die erneut dringliche Frage: Was wird mit jenen, die sich nicht optimieren können?

Mariola Brillowska: Snørre Snørrensønsøn / 55:18

Pola Bipolar wäre gerne Meeresbiologin geworden, stattdessen arbeitet sie als Köchin auf der deutschen Forschungsstation „Polarstern”, wo sie ihren alten Schulfreund, den zeitgenössischen Musiker Snørre Snørrensønsøn wiedertrifft. Er ist Akustik-Forscher für „Polarstern“, die den Klimawandel untersucht. Dafür nimmt Snørre Geräusche der schmelzenden Schneeflocken auf. In Vergangenheit arbeitete er als Loop-Bastler für Björk, Enya und Tricky.

Ensemble 23: Was Ihr wollt! – oder auch nicht / 21:47

Große Pandemien erfordern große Taten, also hört! Welches Drama hätte sich Shakespeare im Lockdown einfallen lassen? Ensemble 23 wollte einfach alles, „Was Ihr wollt!”, von Shakespeare spielen. Dann kam eine Pandemie dazwischen. Keine Proben, keine Aufführungen – was wird jetzt aus dem Stück? Ensemble 23 trotzt Corona mit einer Audiopremiere und einem Drama shakespearschen Ausmaßes über die Schwierigkeit zu proben im Hygienemodus. Ein Sturm bricht los, wenn jemand das Meeting verläßt.

Clemens Hoffmann: Pangäa Ultima / 41:09

Fred befindet sich auf Forschungsreise durch Pangäa, der vorerst letzten zusammenhängenden Landmasse auf Erden. Er soll einen Ort finden, an dem es sich zu leben lohnt. Zweiter Auftrag: Irgendwas stimmt mit der Zeit und ihrem Ablauf nicht. Fred kann vielleicht auch herausfinden, was das verursacht? Während der Reise zerbricht Pangäa immer weiter, schiebt sich anders wieder zusammen, nur um neu zu zerbröckeln. Anthropozän? Wofür halten wir uns?

Mark Kanak: Tollhaus / 54:00

In einer psychiatrischen Klinik, nachdem er eine Tat begangen hat, versucht der Patient, Niedermoor (gesprochen von Blixa Bargeld), sich daran zu erinnern, was der Grund für seine Einweisung war. Er liest die Hausordnung und führt dabei ein imaginäres Gespräch mit sich selbst, erinnert sich an Ereignisse des Vortages, an eine verlorene Liebe, an seinen früheren Arbeitsplatz (Recycler AG) und an seine Suche nach sich selbst.

Sarah Marie Meinert: Miss Kommunikation 2.0/ 35:53 *

Eine Erinnerung ausgestalten und die bessere Geschichte erfinden. Das ist doch mal Selbstkundgabe über Irrelevanz. Und die Sprache? Ist nicht echt. Ist verdichtet. Ist aufgeschrieben. Ist der Idiolekt eines Schauspielers in der Improvisation eines Charakters. Hab ich jetzt voll nicht naturalistisch skizziert (zum Beispiel). Echt ist nur: wir haben uns nicht verstanden. Du hast Alien gesprochen und ich hab Französisch gegoogelt. Oder so.