/// Das lange brennende Mikro – Die Nominierten

/// Das lange brennende Mikro des 13. Berliner Hörspielfestivals geht an Jasmina Al-Qaisi für ihr Stück „A Stork Story“.

„A Stork Story“ ist in gleich vier Sprachen verfasst, nämlich Englisch, Spanisch und Rumänisch. Die vierte Sprache ist die Sprache der Störche, einer Spezies, die anders als andere Tiere (im Besonderen andere Vögel) nicht einmal über die biologischen Voraussetzungen für Gesang oder gar Sprache verfügt – nämlich über Stimmbänder.

Das, sollte man meinen, ist für ein Hörspiel die denkbar schlechteste Voraussetzung, wäre da nicht die Fähigkeit des Menschen zur kulturellen, will heißen: zur lautmalerischen, onomatopoetischen Aneignung. Dass Hunde im Chinesischen statt „Wau-Wau“ „Wang-Wang“ machen, wissen wir von Hermann Bohlen, dass Störche im Rumänischen „Tactatacatatacata“ oder „Piki di piki di piki“ klappern, wissen wir jetzt von Jasmina Al-Qaisi – und dass die Störche sich für uns als Spezies nicht besonders interessieren, auch.

Ihre Art von kultureller Weltaneignung – also die der Störche – ist eine literarische, ja eine der Genre-Literatur. Während der Mensch seinem Nachwuchs eine Geschichte vom Storch erzählt, wenn es um so ein heikles Thema wie die Fortpflanzung oder die Reproduktionsmedizin geht, erzählt jetzt der Storch zurück, und zwar eine Sciene-Fiction-Fiction-Fiction.

Wir haben es hier mit einer extrem welthaltigen Mischform des Erzählens zu tun, die souverän die Genregrenzen zwischen Feature und Fiktion, Reportage und Sprachmusik überschreitet. Das heißt, in Jasmina Al-Qaisis Stück erfahren wir nicht nur, wie das Erzählen zwischen den Sprachen (und vielleicht ja auch zwischen den Spezies) funktionieren kann, sondern auch, wie es im akustischen Medium funktioniert – nämlich mit den Möglichkeiten der menschlichen Stimme und mit O-Tönen von einer rumänischen Biologie-Lehrerin, einer deutschen Storchenforscherin, einer indischen Wildtierbiologin und einer spanischen Krankenschwester.

Jasmina Al-Qaisi hat in ihrem Mix die Ambivalenz von Verstehen und Nichtverstehen und vom Verstehen im Nichtverstehen auf eine Weise zum Hören gebracht, bei der das Klappern nicht zum Handwerk, sondern zu Kunst gehört.

„Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dir ein Lied klappern“, endet das Stück – schon passiert!


Auf den zweiten Platz haben wir das Stück „Endstation. Deutsche Sehnsucht.“ von Leonie Jenning gewählt. Unter der Oberfläche eines harmlosen Waldspaziergangs tauchen neben der Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion des Waldes immer wieder Elemente und Metaphern der schwarzen Romantik auf. Dabei werden ein Gedicht von Novalis, ein Märchen von Wackenroder und einschlägige Stellen von HAP Grieshaber, Rudolf Hagelstange und Heiner Müller so transformiert, dass man immer wieder Neues entdecken kann, ohne dass man mit der Nase darauf gestoßen würde. Und mit Kerstin Grassmann bricht dann auch noch eine Schlingensief-Heroine durchs Unterholz. Das hat uns sehr gefallen.

 

Der Jurypreis /// Das lange brennende Mikro ist mit dem Audio-Produktionsstudio Rødecaster Pro II von Røde und einer radiohistorischen Trophäe aus den Beständen des legendären „Funkerberg“-Museums dotiert.

Die Jury besteht in diesem Jahr aus der Hörspielmacherin und Vorjahrespreisträgerin Mariola Brillowska, der Theaterregisseurin und Hörspielmacherin Nele Stuhler, dem bildenden Künstler, Hörspiel- und Filmemacher Eran Schaerf und dem Kabarettsänger und Ehrenratsvorsitzenden des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin, Dietrich Plückhahn.

Hörstücke bis 60 Minuten (#LBM) in alphabetischer Reihenfolge (Namen der Autor:innen).

Jasmina Al-Qaisi: A Stork Story / 50:29
In search of a main character for an untold sci-fi story: empirical knowledge and personal experiences, myths and my own delirium, knit together a story of storks which transcends taxonomy and care for bodies and becomes a curious evolutionary journey of birds and births. Like a science fiction in the making, this story speculates on possibilities of togetherness and it takes the power of fiction as a fuel for real-life changes. Docufiction in English, Romanian and Spanish.Auf der Suche nach einer Hauptfigur für eine unerzählte Science-Fiction-Geschichte fügen sich empirisches Wissen und persönliche Erfahrungen, Mythen und mein eigenes Delirium zu einer Storchengeschichte zusammen, die über die Taxonomie und das Kümmern um die Körper hinausgeht und zu einer kuriosen evolutionären Reise von Vögeln und Geburten wird. Wie ein im Entstehen begriffener Science-Fiction spekuliert die Geschichte über die Möglichkeiten des Miteinanders und nutzt die Kraft der Fiktion als Treibstoff für Veränderungen im realen Leben.
Susanne Franzmeyer: Wellenbrecher / 54:33
Irgendwann in naher oder ferner Zukunft. Die Pandemie von 2020 brachte etwas ins Rollen, das nicht mehr zu stoppen war. Mutation folgte auf Mutation. Bis noch gänzlich neue Probleme hinzukamen. In diesem Chaos aus verzweifelten Versuchen, einem kaum mehr kontrollierbaren Zusammenbruch innerer und äußerer gesellschaftlicher Strukturen bewegen sich die WELLENBRECHER in einem undefinierten Raum voller Unsicherheit, Kreativität, Überlebenskampf und hoffnungsvoller Erwartung an die Zukunft.
Leonie Jenning: Endstation. Deutsche Sehnsucht. / 58:50 *
Vor einiger Zeit hat ein Berliner Sender die Aktion: „Kommt Zeit. Dreht Rad. Pflanzt Baum.“ ins Leben gerufen. Bei eine Naturtombola auf dem Waldsieversdorfer Jägerfest haben sechs TeilnehmerInnen eine Waldtour durch den Strausberger Forst gewonnen. Ein Volontär vom Radio wird die Gruppe bei ihrer Expedition begleiten, aber wer soll später einem Mitschnitt glauben, der versucht, realistisch zu dokumentieren, wie ihnen da draußen die Realität vollkommen abhanden kommt.
Antonius Koschorz: Im Gebüsch / 22:55
Mitten in einer globalen Notlage spaziert ein junger Mann gedankenversunken mit einem Hund durch die Straßen und versucht, die Entfremdung zur Welt, zu seinen Mitmenschen und dem eigenen Bewusstsein zu überwinden. Tatsächlich scheint es, als könne er den Bezug wiederherstellen. Doch dann holt ihn sein Schicksal ein. “Im Gebüsch” fragt nach Solidarität, Mitgefühl und Verantwortung, und welchen Einfluss die mediale Vermittlung zwischen Mensch und Gesellschaft darauf hat.
Janette Mickan (Lunatiks): Blühende Randschaften * Stahl / 57:34*
Das Stahl- und Walzwerk Brandenburg war einst der größte Rohstahlproduzent der DDR. Nach der Wende dann der typische Verlauf: Verkauf durch die Treuhand und Entlassungswelle. Ein Teil des Werkes wird endgültig stillgelegt. In einer unbestimmten Zukunft macht sich der Simulationstester Ulf Sennhausen in der Singularität M.Ü.M.Y. auf den Weg, diese Zeit des Umbruchs zu erforschen. Er findet eine Familiengeschichte, die ihn mehr in ihren Bann zieht, als ihm lieb ist.
Gesche Piening: Produziere Ich / 21:08
„Produziere Ich“ erzählt von den allgegenwärtigen Zynismen eines Kulturbertriebs, der bei Auftragsarbeiten wie selbstverständlich die ganze Person beansprucht und entsprechend unausgesetzt nicht-vergütete Zusatzleistungen einfordert. Und so stellt „Produziere Ich“ auch die Frage nach produzierendem und produziertem Ich in typischen Akquise-Situationen von Autor*innen im frühen 21. Jahrhundert.
Henriette Fridoline Schmidt, Mehdi Moradpour : Kopfkino – Stadtspaziergänge #15 Flamingos. Vielleicht Einhörner (oder eine Obergrenze für Reichtum) / 36:33
Es kommen immer mehr dazu. Neue Köpfe, Rümpfe, Hände und Gebärden bilden Reihen und schreiten in Richtung Frühlingsanlagen – die Stadt wächst und mit ihr die Frage: Braucht es eine Obergrenze für Reichtum? Hat irgendwer eine Idee? Irgendwer? Medhi Moradpour lädt ein zum Morgenmagazin „Schiffbruch mit Zebra“ live aus dem Open-Air-Studio auf der Weideninsel – der großen! Es geht um – wie letzte Woche schon angekündigt – Reichtum. Und am Mikrofon wie immer Eure Zebra!
Peter Stamer: 26. April 1986/ 58:59
Die Menschen, die sich am Abend des Supergaus in Tschernobyl in der Berliner Wunderbar treffen, wissen noch nichts von der Wolke, die sich gerade zu ihnen auf den Weg macht. Stattdessen kreisen die Sabines und Wolfgangs lieber um ihre menschlichen und allzumenschlichen Geschichten, ihre Eigenheiten, Wünsche und Hoffnungen, bis am Ende die Bartür aufgestoßen wird, und herein kommen …

Texte der Autor:innen. Alle Visuals von Josef Maria Schäfers.